Das Beihilfenrecht in der Krise?

Das Beihilfenrecht in der Krise?

Seit Ende 1993 bin ich nun im Beihilfenrecht tätig und habe dabei unterschiedliche Krisen erlebt: Angefangen mit der Privatisierung der ehemals staatseigenen Betriebe in der DDR bis hin zu den Rettungsschirmen der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008/2009. Immer hatte ich dabei den Eindruck, dass das Beihilfenrecht ein taugliches Instrument ist, die Balance zwischen notwendiger staatlicher Unterstützung und dem Erhalt des Wettbewerbs zu halten. Derzeit habe ich allerdings das Gefühl, das Beihilfenrecht befindet sich selber in der Krise.

Aufgrund des COVID-19 Ausbruchs steuern wir in die schwerste Rezession der Nachkriegszeit. Allein der Einzelhandel in Deutschland erwartet in 2020 über 50.000 Insolvenzen. Ende April waren rund 2,6 Mio. Menschen in Deutschland arbeitslos und rund 750.000 befanden sich in Kurzarbeit. Nicht nur Deutschland befindet sich in einer Situation, die nur mit Hilfe staatlicher Unterstützung überstanden werden kann. Die Mitgliedstaaten überbieten sich daher in Anzahl und Höhe der staatlichen Förderprogramme. Bis Ende April hat die Kommission auf Grundlage des Vorübergehenden Beihilferahmens bereits 90 Beihilfeentscheidungen getroffen. Weitere drei Entscheidungen ergingen unmittelbar auf Grundlage von Art. 107 Abs. 3 lit b AEUV und acht weitere hatten Art. 107 Abs. 2 lit b AEUV als Rechtfertigungsgrundlage. Inklusive der Entscheidung zugunsten „Condor“ betreffen sieben Beschlüsse das milliardenschwere Corona-Paket Deutschlands. Dazu gehören auf Bundesebene insbesondere die Beihilfemaßnahmen, die über die KfW gewährt werden.

Bei der Beratung durch die Krise gebeutelter Unternehmen fühle ich mich trotzdem in den vergangenen Wochen wie ein Notarzt, dem zwar alle Instrumente für eine Operation bereitliegen, aber im letzten Moment der Strom abgestellt wird. Dies deshalb, weil die KfW-Programme nicht greifen, da entweder die Hausbank fehlt oder nicht ins Obligo gehen möchte oder die KfW die Finanzierung aufgrund des Ratings der Hausbank ablehnt. Die konkreten Probleme in der Anwendung zeigen sich damit in der täglichen Praxis.

Alternativ wäre eine Einzelfallnotifizierung auf Grundlage von Art. 107 Abs. 2 lit b AEUV zwar grundsätzlich möglich, ein konkreter Schaden auch darstellbar, aber wer gibt das Geld? Die Haushaltslage ist auf Länderebene bereits sehr angespannt. Die meisten Mittel dürften in Programme geflossen sein, die auf Grundlage des vorübergehenden Beihilferahmens konzipiert wurden und die die gleichen Probleme aufweisen, wie die KfW-Programme. Weitere Finanzmittel werden für die Rettung landeseigener Beteiligungen bereitgehalten. Die außerprogrammmäßige Rettung des Mittelstandes fällt vor diesem Hintergrund aus. Vermehrt sind Aussagen aus Politik und Wirtschaft zu hören, dass der Staat nicht alle Unternehmen in der Krise retten kann und muss. Das ist sicherlich richtig und betrifft insbesondere Unternehmen, die bereits vor dem Ausbruch von COVID-19 auf wackeligen Füßen standen. Unabhängig davon gibt es aber ganze Branchen, wie z.B. Autohäuser, die trotz stabiler Zahlen in den letzten Jahren aufgrund fehlender Sicherheiten grundsätzlich keine Kredite bei Banken bekommen. Daher besteht für sie auch kaum eine Möglichkeit, die KfW-Programme in Anspruch zu nehmen. Trotz Öffnung der Autohäuser dürfte die Lage in dieser Branche aufgrund von Lieferschwierigkeiten von Einzelteilen oder im Ausland gefertigter Autos weiterhin sehr angespannt bleiben.

Bereits seit zwei Wochen ringt die Kommission nun schon mit den Mitgliedstaaten um eine beihilfekonforme Ausweitung des Vorübergehenden Beihilferahmens auf staatliche Beteiligungen an notleidenden Unternehmen. In Deutschland stünde dafür der Wirtschaftsstabilisierungsfonds zur Verfügung. Ziel der Kommission ist es offensichtlich, den staatlichen Einstieg aber nur als ultima ratio zuzulassen und so unattraktiv wie möglich zu gestalten. Auf den Punkt gebracht: „keine Boni, keine Dividende, keine Risiken“ – wie die Süddeutsche Zeitung berichtet.

Unabhängig von dieser Diskussion haben sich die konkreten Probleme deutlich in der letzten Woche im Zusammenhang mit dem milliardenschweren Rettungspaket für die Lufthansa gezeigt. Die Frage der staatlichen Beteiligung an dem Luftfahrtunternehmen spaltet Politik und Wirtschaft. Dabei geht es schlicht um die Frage: „Wie sehr darf oder muss der Staat aufgrund seiner Beteiligung tatsächlich in die Geschäftspolitik des Unternehmens eingreifen und wie könnten möglichst zeitnahe Ausstiegsszenarien aussehen?“ Nach den ersten Verhandlungen mit der Bundesregierung schien der Lufthansa sogar eine Insolvenz in Eigenverwaltung interessanter, als sich mit dem Staat weiter einzulassen. Nach öffentlichen Meldungen gehen die Diskussionen aber weiter, nun geht es um eine stille Beteiligung, ohne Einflussmöglichkeit des Staates auf die Geschäftspolitik. Hatte sich das Frau Vestager so vorgestellt?

Immer wieder werden daher Stimmen laut, die 100%ige Staatsbürgschaften über die bisher zulässigen 800.000,- € hinaus fordern. Dieser Betrag reicht für Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeiter in vielen Branchen derzeit nicht mehr aus. Gegen 100%ige Staatsbürgschaft bestehen jedoch Bedenken vor dem Hintergrund eines nicht einschätzbaren Risikos von wettbewerbsschädlichen Mitnahmeeffekten aufgrund Fehlens der sonst üblichen bankenseitigen Überprüfung der Überlebensfähigkeit des betroffenen Unternehmens. Kann das nur eine Bank prüfen?

Das Argument der Kommission  gegen eine allgemeine Ausweitung der Bürgschaften auf 100% ist allerdings, dass sich reiche Mitgliedstaaten wie Deutschland diese Art der Finanzierung zwar leisten könnten, andere Mitgliedstaaten dazu jedoch nicht in der Lage seien und dadurch der Wettbewerb in Europa in besonderem Maße beeinträchtigt werden würde. Dieser Ansatz der Kommission ist nicht neu und wird auch an anderer Stelle vorgetragen, ist dennoch aber auch hier nicht wirklich überzeugend. Die deutsche Wirtschaft war in den vergangenen Jahren der entscheidende Motor für den gesamten Binnenmarkt. Wie kann mit diesem Argument deutschen Unternehmen erklärt werden, dass sie jetzt für diesen Erfolg abgestraft werden, weil andere Mitgliedstaaten ihre Unternehmen in der Krise nicht unterstützen können?

Zu bedenken ist dabei außerdem, dass andere Volkswirtschaften wie die USA und China, die von der Corona-Krise ebenfalls stark gebeutelt sind, keine Beihilfevorschriften bei der Förderung ihrer Unternehmen zu beachten haben. Stehen europäische Unternehmen nicht nach der Krise mit genau diesen Unternehmen wieder im Wettbewerb – sofern sie bis dahin überleben?

Welche Instrumente wären aus meiner Sicht hilfreich? Zum einen enthält der Vorübergehende Beihilferahmen die Möglichkeit, 100%ige staatliche Kredite zu ermäßigten Zinssätzen zu gewähren. Von dieser Alternative hat Deutschland bislang keinen Gebrauch gemacht. Statt der beihilferechtlich zulässigen 100% bei Krediten übernimmt die KfW für größere Unternehmen nur ein Ausfallrisiko von maximal 80%. Zum anderen könnte überlegt werden, für besonders betroffene Branchen – wie z.B. Hotels und Restaurants sowie für den Veranstaltungs- und Reisesektor – Programme nach dem Beispiel von Dänemark auf Grundlage von Art. 107 Abs. 2 lit b AEUV zu notifizieren, um konkret entstandene Schäden der betroffenen Unternehmen auszugleichen. Um die Welle der anstehenden Insolvenzverfahren aufzuhalten, sollte auch über die Möglichkeit von Einzelfallnotifizierungen auf Grundlage von Art. 107 Abs. 2 lit b AEUV durch die Finanzierung aus einem Bund-Länder-Topf nachgedacht werden. Dies zumindest dann, wenn Unternehmen nachweisen können, dass eine anderweitige Finanzierung nicht möglich ist, sie ausschließlich aufgrund der Corona-Krise in Schwierigkeiten geraten sind und sie ein tragfähiges Unternehmenskonzept vorlegen können.


Comments are closed.