Vergaberecht in Zeiten von Corona

Vergaberecht in Zeiten von Corona

So sehr das öffentliche Leben aufgrund der COVID-19-Epidemie auch zum Erliegen gelangt, das Vergaberecht bleibt auch in diesen Zeiten anzuwenden. Eine Bereichsausnahme vom Anwendungsbereich des Vergaberechts für solche Fälle gibt es nicht. Auch wenn es um die Gesundheitssicherheit geht, sind nicht die wesentlichen Sicherheitsinteressen im Sinne von Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV betroffen, die den Auftraggeber nach § 107 Abs 2 Nr 2 GWB von der Anwendung des Vergaberechts freistellen.

Aber: Die aktuellen Umstände berechtigen zu Verfahrenserleichterungen, die insbesondere zur Verfahrensbeschleunigung beitragen. Hierauf hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) in seinem Rundschreiben vom 19. März 2020 (Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2, Aktenzeichen 2060 1/000#003) hingewiesen.

Auftraggeber können – für Aufträge, die den jeweiligen Schwellenwert nach § 106 GWB erreichen oder überschreiten – das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb und – für Aufträge, die den jeweiligen Schwellenwert nach § 106 GWB unterschreiten – die Verhandlungsvergabe nach der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) bzw. die Freihändige Vergabe nach der Vergabeordnung für Bauleistungen (Abschnitt 1 VOB/A) oder nach der Vergabeordnung für Leistungen (Abschnitt 1 VOL/A) wählen. Vorteil dieser Verfahrenswahl ist, dass Angebote ohne Bekanntmachung bzw. Teilnahmewettbewerb eingeholt werden können und das Verfahren flexibel gestaltet werden kann. Nach dem Rundschreiben des BMWi sind zudem sehr kurze Angebotsfristen „bis hin zu 0 Tagen“ möglich. Die Voraussetzungen für diese Verfahrenswahl sind etwa nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, dass

  1. ein unvorhergesehenes Ereignis vorliegt,
  2. äußerst dringliche und zwingende Gründe bestehen, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen,
  3. ein kausaler Zusammenhang zwischen dem unvorhergesehenen Ereignis und der Unmöglichkeit besteht, die Fristen anderer Vergabeverfahren einzuhalten.

Diese Voraussetzungen sind laut des Rundschreibens des BMWi für den Einkauf von Leistungen gegeben, die der Eindämmung und kurzfristigen Bewältigung der Corona-Epidemie und/oder der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienen. Grundsätzlich berechtigt dies den Auftraggeber jedoch nicht zu einer Direktvergabe, das heißt die Vergabe an ein Unternehmen ohne die Einholung weiterer Angebote. Nur im Anwendungsbereich der UVgO ist dies in § 12 Abs. 3 UVgO ausdrücklich zugelassen. Im Übrigen muss im Einzelfall eine besondere Eilbedürftigkeit festgestellt werden. Das Rundschreiben des BMWi sieht angesichts der Epidemie eine solche besondere Eilbedürftigkeit gegeben.

Zur Bewältigung kurzfristiger Beschaffungsbedarfe aufgrund der Epidemie ist auch die Anpassung und vor allem die Erweiterung bestehender öffentlicher Aufträge erleichtert. Nach § 132 Abs. 1 S. 1 GWB erfordern wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit ein neues Vergabeverfahren. Das ist nach § 132 Abs. 1 S. 3 GWB insbesondere der Fall, wenn der Umfang des öffentlichen Auftrags erheblich ausgeweitet wird. Eine Ausnahme hiervon gilt jedoch nach § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GWB. Danach ist ein erneutes Vergabeverfahren unter folgenden Voraussetzungen nicht erforderlich:

  1. Die Auftragsänderung ist erforderlich aufgrund des Vorliegens von Umständen, die der Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflichten nicht vorhersehen konnte.
  2. Der Gesamtcharakters des Auftrags wird durch die Auftragsänderung nicht verändert.
  3. Der Preis darf nicht um mehr als 50 % des Wertes des ursprünglichen Auftrags erhöht werden.

In der Regel ist die erste Voraussetzung nur schwer zu begründen, da es zu den Sorgfaltspflichten des Auftraggebers gehört, seinen Beschaffungsbedarf umsichtig zu planen. Angesichts der Epidemie bereitet die Begründung dieser Voraussetzung nach dem Rundschreiben des BMWi jedoch keine größeren Probleme: Weder die dynamische Entwicklung der Ausbreitung des COVID-19-Erregers noch die daraus resultierenden konkreten Bedarfe hätten in ihrem Umfang und der Kurzfristigkeit ihrer Erforderlichkeit auch bei Beachtung aller Sorgfaltspflichten vorhergesehen werden können. Auch an der zweiten Voraussetzung wird die Auftragsänderung dann in der Regel nicht mehr scheitern. Eine Änderung des Gesamtcharakters ist nach dem Rundschreiben des BMWi, aber auch nach dem gesetzgeberischen Willen (Bundestags-Drucksache 18/6281, S. 119) erst bei einer grundlegenden Änderung der Beschaffung anzunehmen, etwa wenn der Lieferauftrag zu einem Dienstleistungsauftrag geändert wird.

Autor: Frederic Delcuvé, Müller-Wrede & Partner


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