Erneut musste sich der EuGH mit sog. „tax-rulings“ beschäftigen. Dieses Mal ging es um eine belgische Verwaltungspraxis zugunsten von multinationalen Konzernen und in diesem Zusammenhang um die Frage, ob diese Verwaltungspraxis eine Beihilferegelung darstellt.
Auf Grundlage dieser Verwaltungspraxis wurden Gewinne multinationaler Konzerne, die über den durchschnittlichen Gewinn eines eigenständigen Unternehmens in vergleichbarer Lage hinaus gingen, nicht als „Gewinnüberschuss“ besteuert (zu Einzelheiten siehe „Only in Belgium“).
Die vierte Kammer des Europäischen Gerichtshofs (im Folgenden „EuGH“) hat mit Urteil vom 16.09.2021 (Rechtssache C-337/19 P) entschieden, dass es sich dabei um eine Beihilferegelung handel und insofern den Beschluss (EU) 2016/199 der Kommission vom 11.01.2016 (siehe auch zum Beschluss der Kommission „Only in Belgium“) bestätigt.
Die sich gegen diese Feststellung richtenden Klagegründe wurden zurückgewiesen. Im Übrigen wurde die Sache an das Gericht (im Folgenden „EuG“) zurückverwiesen. Das EuG ging im Ausgangsrechtsstreit noch davon aus, dass es sich bei den streitigen sog. „tax rulings“ nicht um eine Beihilferegelung handele.
Die Entscheidung im Einzelnen:
Das EuG hat in seinem erstinstanzlichen Urteil nach Ansicht des EuGH die Voraussetzungen des Art. 1 Buchst. d der Verordnung 2015/1589 falsch ausgelegt und ist fehlerhaft zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei dem gegenständlichen belgischen „tax ruling“ nicht um eine Beihilferegelung handele. Nach den Ausführungen des EuGH setzt die Einstufung als „Beihilferegelung“ das Vorliegen drei kumulativer Voraussetzungen voraus:
Unternehmen können auf der Grundlage einer Regelung Einzelbeihilfen gewährt werden (1.), für die Gewährung der Beihilfen ist keine nähere Durchführungsmaßnahme erforderlich (2.), Unternehmen, denen Einzelbeihilfen gewährt werden können, müssen in allgemeiner und abstrakter Weise definiert werden (3.).
Das EuG hat in der Anwendung aller drei Voraussetzungen Rechtsfehler begangen.
So werden mit dem Begriff „Regelung“ im Allgemeinen zwar Rechtsakte bezeichnet, die die Rechtsgrundlage der Beihilferegelung bilden. Doch hat das EuG verkannt, dass hierunter auch eine ständige Verwaltungspraxis fallen kann, wenn diese Praxis ein „systematisches Konzept“ erkennen lässt und dass die Kommission zurecht vom Vorliegen eines solchen systematischen Konzepts ausgegangen ist. Die Kommission konnte ihre Annahme insofern auf repräsentative Stichproben aus einem Drittel der Steuerbescheide stützen.
Betreffend die zweite Voraussetzung nahm das EuG an, dass die zuständigen Behörden jeden Antrag im Einzelfall geprüft und hierbei ein Ermessen ausgeübt hätten, was insofern eine Durchführungsmaßnahme dargestellt hätte. Diese Schlussfolgerung ist ausgehend von der Annahme, dass keine eine „Regelung“ begründende ständige Verwaltungspraxis im Sinne eines systematischen Konzepts vorliegt, zwar folgerichtig. Das EuG verkennt insgesamt aber, dass die ständige Verwaltungspraxis der belgischen Behörden grade darin bestand, bei Vorliegen der Voraussetzungen einen entsprechenden Steuerbescheid zu erlassen, ohne dass hierbei ein Ermessen ausgeübt worden wäre oder eine andere Durchführungsmaßnahme erforderlich wäre.
Auch die fehlerhafte Beurteilung des EuG der dritten Voraussetzung ergibt sich zwangsläufig aus den Rechtsfehlern im Zusammenhang mit den ersten beiden Voraussetzungen. So müssten nach den Ausführungen des EuG in Ermangelung einer die Begünstigten festlegenden Regelung die Begünstigten erst durch nähere Durchführungsmaßnahmen definiert werden. Die Begünstigten wurden aber bereits durch die als Regelung zu verstehende Verwaltungspraxis hinreichend bestimmt.
Im Ergebnis nimmt der EuGH deshalb das Vorhandensein einer Beihilferegelung im Sinne des Art. 1 Buchst. d der Verordnung 2015/1589 an.
Da die Klage aber auch die Einstufung der Kommission des Systems der Befreiung von Gewinnüberschüssen als staatliche Beihilfemaßnahme im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV umfasste und der EuGH für die hier anzustellende Tatsachenwürdigungen im Rahmen der Prüfung eines Vorteils und der Selektivität nicht über die erforderlichen Tatsachen verfügte, verwies er die Sache insoweit an das EuG zurück. Selbiges betrifft die Rügen der Kläger zu Verstößen gegen die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und des Vertrauensschutzes und gegen eine fehlerhafte Anordnung der Rückforderung.
Autor: Christopher Hanke, Müller-Wrede & Partner